Donnerstag, 6. Juli 2017

Göttinnen im Juli




Die unglückliche Prinzessin  aus „Griechische Volksmärchen“
Es war einmal eine Königin, die hatte drei Töchter, und sie konnte sie nicht versorgen. Die Königin hatte großen Kummer, weil alle anderen jungen Mädchen heirateten, und ihre, die doch Königstöchter waren, sollten womöglich ohne Mann alt werden.
Eines Tages ging eine Bettlerin am Schloss vorbei und bat um ein Almosen. Als sie die Königin so bedrückt sah, fragte sie: „ Sag, was fehlt dir, meine Liebe?“ und sie erzählte ihren Kummer. Darauf  riet ihr die Bettlerin: »Höre was ich dir sage. Nachts, wenn deine Töchter schlafen, musst du sie beobachten und sehen, wie sie liegen. Und das musst du mir sagen.«
Das tat die Königin. Nachts beobachtete sie die Mädchen und sah dass ihre älteste Tochter die Hände über dem Kopf hielt, die zweit gekreuzt über der Brust und die dritte zusammengelegt zwischen den Knien.
Als am nächsten Tag die Bettlerin kam und sie fragte, erzählte sie ihr, was sie beobachtet hatte. Da sagte die Bettlerin zu ihr: »Hör mich, Frau Königin. Die dritte, die im Schlaf die Hände zusammen gelegt zwischen den Knien hielt, die hat das schlimme Schicksal. Und ihr Schicksal steht dem Schicksal der anderen im Wege.«
Als die Bettlerin fortgegangen war, blieb die Königin noch lange in Gedanken versunken. Die jüngste Tochter aber hatte alles gehört. »Ich will dir etwas sagen, Mutter, sorge dich nicht, ich habe gehört und verstanden dass ich auch für meine beiden Schwestern das Hindernis für ihre Heirat bin. Gib mir meine ganze Mitgift in Dukaten und nähe sie mir in den Saum meines Rockes und lass mich ziehen.«
Die Königin wollte sie nicht ziehen lassen »Wohin willst du denn gehen, meine liebe Kleine?«, aber sie hörte nicht. Sie kleidete sich als Nonne und brach auf, nachdem sie von ihrer Mutter Abschied genommen hatte. Als sie durch das Tor des Schlosses davonging, kamen zwei Freier für ihre Schwestern hinauf.
Die Unglückliche ging und ging, bis sie am Abend in ein Dorf kam Dort klopfte sie an die Tür eines Händlers:“ Ich bitte dich, lass mich die Nacht in deinem Haus verbringen.“ Der sagte ihr: „So steig hinauf in meine Wohnung.“ Sie aber lehnte ab und bestand darauf im Keller zu bleiben. In der Nacht nun kam ihre Schicksalsfrau und fing an, die Stoffe, die dort unten aufbewahrt wurden, in Fetzen zu reißen, und brachte alles durcheinander, obwohl das Mädchen sie inständig bat, Ruhe zu halten. Aber wie hätte die Schicksalsfrau darauf hören sollen? Sie drohte ihr vielmehr: „ Sei still sonst werde ich auch dich noch selbst zerreißen.
Als es Tag wurde, kam der Händler herab, um nach der Nonne zu sehen, aber als er all das Unheil sah, all seine Ware verdorben und alles auf den Kopf gestellt, sagte er zu dem Mädchen: »Oh, Frau Nonne! Was hast du mir Schlimmes angetan! Du hast mich zugrunde gerichtet! Was soll jetzt aus mir werden?« »Sei nur ruhig«, antwortete sie und öffnete ihren Rocksaum und holte Golddukaten heraus .»Genügt dir das?«
»Genug, genug.« Und so nahm sie Abschied von ihm und machte sich wieder auf den Weg.
Sie ging und ging, bis sie wieder von der Nacht überrascht wurde und im Haus eines Glaswarenhändlers fragte ob sie die Nacht bei ihm verbringen dürfe.Auch er bat  sie, sie solle doch herauf in seine Wohnung kommen. Sie aber bat, im Keller bleiben zu dürfen.
Wieder kam nachts ihre Moira und ließ nichts heil. Am andern Morgen kam der Händler, um nach der Nonne zu schauen, und sah die Katastrophe. Er fing an zu schreien und zu klagen, aber als sie auch ihm die Hände mit Golddukaten füllte, gab er Ruhe und ließ die Nonne ziehen.
Wieder machte sich die Unglückliche auf den Weg, bis sie zum Königsschloss jenes Landes kam. Dort verlangte sie, die Königin zu sehen, und bat sie, ihr Arbeit zu geben. Die Königin war eine kluge Frau. Sie merkte gleich, dass sich unter der Kutte eine Herrentochter verbarg, und fragte sie.“ Sag mein Kind, verstehst du dich auf die Perlenstickerei?“ Sie antwortete: „Ja, ich kann sehr gut mit Perlen arbeiten.“ Und so behielt die Königin sie bei sich.
Aber als die Unglückliche saß und stickte, stiegen die Gestalten aus den Bildern von den Wänden herab, nahmen ihr die Perlen weg, quälten sie und ließen ihr keinen Augenblick Ruhe. Das alles sah die Königin und bekam Mitleid mit ihr, und oft, wenn die Mägde sich beklagten, dass nachts das Tafelgeschirr zerspränge, und behaupteten: „ Sie ist es die es zerbricht!“ sagte die Königin zu ihnen: »Seid ihr still, seid still, denn sie ist eine Prinzessin und Herrentochter, aber die Arme hat ein böses Schicksal.«
Schließlich sagte eines Tages die Königin zu ihr: »Höre, liebes Kind was ich dir sagen möchte. Auf diese Weise kommst du mit deinem Leben nicht zurecht, da dich deine Moira hetzt, du musst vielmehr sehen, einen Weg zu finden, dass sie dir ein neues Schicksal zuteilt.« »Aber was soll ich machen?« fragte das Mädchen. »Was muss ich denn tun, dass sie mir ein neues Schicksal zuteilt?« »Komm, ich will es dir sagen. Siehst du den hohen Berg, den man in der Ferne erkennt? Dort sind alle Schicksalsfrauen der Welt versammelt. Dort ist ihr Schloss, und das ist der Weg, den du nehmen musst. Geh auf die Spitze des Berges, um deine Moira zu finden, und reiche ihr das Brot, das ich dir mitgeben werde. Dann sage zu ihr: ›Liebe Moira, die du mir mein Schicksal zugeteilt hast, tausch es mir um.‹, und du darfst nicht fortgehen, was sie dir auch antun mag, sondern musst zusehen, dass sie das Brot in ihren Händen behält.«
So tat denn auch die Prinzessin. Sie nahm das Brot und machte sich auf den Weg, ging den Fußsteig, bis sie oben auf die Spitze des Berges kam. Sie klopft an die Gartenpforte, und ein wunderschönes, wohlgepflegtes Mädchen öffnete und trat heraus. »Oh, du gehörst nicht zu mir«, sagte sie und ging wieder hinein. Nach kurzer Zeit kam eine andere heraus, ebenso hübsch und schön. »Ich kenne dich nicht, mein liebes Mädchen«, sagte sie zur Prinzessin und ging fort. Es kam noch eine und noch eine, und viele traten heraus, aber keine erkannte sie als zu ihr gehörig, bis eine ungekämmte, zerlumpte, schmutzige an der Tür erschien. »Was willst du, Kind, warum bist du hier hergekommen?« fragte sie die Prinzessin. »Pack dich, mach, dass du fortkommst, geh, ich werde dich töten!«
Die Unglückliche gab ihr das Brot und sagte zu ihr: »Liebe Moira, die du mir mein Schicksal zugeteilt hast, tausch es mir um.«
»Weh dir! Geh zu deiner Mutter und lass dich noch einmal zur Welt bringen, lass dich an ihre Brust legen und dich in Schlaf singen, dann kannst du kommen, und ich werde dir dein Schicksal umtauschen.« Die anderen Moiren sagten zu der schlimmen: »Gib doch der Unglücklichen ein anderes Schicksal! Sie gehört zu dir und taumelt dahin und ist doch eine Königstochter. Gib es ihr, gib es ihr.«
»Ich kann nicht, sie soll machen, dass sie fortkommt!« Und sie nimmt das Brot, wirft es ihr an den Kopf, und es rollt zu Boden. Das Mädchen hob es auf und trat wieder an sie heran und sagte zu ihr: »Nimm es, meine gute Moira, nimm es, und tausche mein Schicksal um.« Aber die trieb sie fort und warf sie mit Steinen.
Zuallerletzt, war es der Zuspruch der einen Moira oder einer anderen, war es die Beharrlichkeit des Mädchens, die ihr das Brot reichte, mit einem Mal wurde die böse Moira anderen Sinnes und sagte zu ihr: »Gib es mir«, und sie griff nach dem Brot. Zitternd stand das Mädchen vor ihr, voll Furcht, sie würde es wieder von sich werfen, aber sie hielt es fest und sagte zur Prinzessin: »Höre, was ich dir sage! Nimm dieses Knäuel«, und sie wirft ihr ein Knäuel Seide zu, »und bewahre es gut. Du darfst es weder verkaufen noch verschenken, sondern wenn jemand es von dir haben will, darfst du es nur weggeben für das, was es selbst wiegt. Nun geh und mach deine Sache gut.«
Das Mädchen nahm das Knäuel und ging zurück zur Königin. Jetzt störte sie nichts mehr. Im Nachbarland heiratete der König, und für das Kleid der Braut fehlte es an Seide, die genau zu dem Kleid passen musste. Die Schlossleute fragten nun überall herum, ob sie irgend etwas Passendes finden könnten. Sie hatten gehört, dass im benachbarten Königreich ein Mädchen war, das ein Knäuel Seide besaß. Also gingen sie zu ihr und baten sie, mit dem Knäuel zum Schloss der Braut zu kommen, damit sie prüfen könnten, ob die Seide zum Kleid passe. Als sie angekommen waren, hielten sie das Knäuel an das Kleid und sahen, dass es ohne jeden Unterschied genau passte. Da fragten sie das Mädchen, was sie verlange, denn sie wollten die Seide kaufen. Da antwortete sie, dass sie es nicht verkaufe, sondern nur aufwiegen ließe. Sie legten es also auf die Waage, und auf die andere Seite legten sie Dukaten, aber die Waage rührte sich nicht. Sie legten immer mehr Dukaten dazu, aber umsonst. Da stieg der Königssohn selbst auf die Waage, und so war die Seide aufgewogen. Nun sagte der Königssohn: »Da nun deine Seide so viel wiegt wie ich selbst, musst du, damit wir das Seidenknäuel nehmen können, mich nehmen.« Und so geschah es, der Königssohn heiratete die Prinzessin, und sie feierten ein großes Fest und lebten gut und wir noch besser.

Das Meer im Juni



Der Robbenfänger und die Meerleute
Märchen aus Schottland


An der Nordküste von Schottland lebte in einer kleinen Hütte ein Mann, der Fischfang trieb, vor allem aber Robben fing. Die Felle der Robben wurden ihm gut bezahlt. Die Tiere kamen in großer Zahl aus dem Meer und legten sich auf die Felsen bei seinem Haus in die Sonne. So war es nicht schwer, ihnen beizukommen.
Einige darunter fielen durch ihre Größe auf. Manche meinten, das seien überhaupt keine Robben, sondern Wassermänner und Meerfrauen, die auf dem Grunde der See wohnten. Aber der Robbenfänger lachte nur darüber und sagte: „Gerade damit mache ich das beste Geschäft: je größer die Tiere, desto größer die Felle und um so höher die Preise!“
Eines Tages hatte er beim Jagen ein Missgeschick. Das Tier, nach dem er stieß, entglitt ihm mit lautem Geheul ins Wasser mitsamt dem Jagdmesser, das in ihm steckte. Als er verdrießlich nach Hause ging, kam ein Fremder daher geritten, der noch ein zweites Pferd mit sich führte. Er hielt den Robbenfänger an und sagte: „Ich bin von jemand abgeschickt, der mit dir einen Handel über eine Anzahl Seehundsfelle schließen will. Willst du mit mir zu dem Auftraggeber gehen? Es muss aber sofort sein.“
Der Robbenfänger freute sich. Da war ein guter Handel in Aussicht, der konnte den Verlust mehr als Wett machen. Er willigte also ein, bestieg das zweite Pferd und der Fremde ritt mit ihm so geschwind los. Sie ritten so schnell,  dass der Wind ihm ins Gesicht zu blasen schien. Aber er wusste, dass er von hinten kam. Mit einem Mal hielt der Fremde an. Sie standen an einem Felsenhang, der in die See hineinragte und steil abstürzte.
"Hier ist es", sagte der Fremde. Und dann packte er den Fischer mit übernatürlicher Kraft und stürzte sich ohne weiteres mit ihm gerade ins Meer hinein.
Der Robbenfänger dachte schon: „Jetzt ist es aus mit mir“, da merkte er zu seinem Erstaunen, dass sich etwas mit ihm verändert hatte. Mitten im Wasser konnte er ganz leicht atmen, und dabei sanken sie immer tiefer und so schnell, wie sie vorher zu Land durch die Luft gesaust waren. Sie waren - er wusste nicht wie tief - hinab getaucht, da kamen sie auf dem Grunde an ein großes gewölbtes Tor. Das schien aus rosenroten Korallen gemacht und war besetzt mit Herzmuscheln. Es öffnete sich von selbst, und sie traten in einen großen Saal, dessen Wände aus Perlmutt waren und dessen Boden aus glattem, festem Seesand bestand.
Der Saal war voll von Gästen, lauter Robben, aber sie sprachen und zeigten an ihr, dass sie wie Menschen empfanden. Sie schienen alle sehr traurig zu sein, bewegten sich lautlos durch den Saal, sprachen leise miteinander oder lagen schwermütig auf dem Sandboden und wischten sich mit ihren weichen felligen Flossen große Tränen aus den Augen.
Der Robbenfänger wandte sich zu seinem Begleiter und wollte ihn fragen, was das alles bedeutete - da sah er zu seinem Schrecken, dass der ebenfalls die Gestalt eines Seehundes angenommen hatte. Noch mehr entsetzte er sich aber, als er nun gewahr wurde, dass auch er selber nicht mehr den Menschen ähnlich, sondern in einen Seehund verwandelt war. Ganz benommen und verzweifelt war er bei dem Gedanken, dass er nun sein Leben lang in dieser schauderhaften Gestalt bleiben müsse.
Jetzt zeigte ihm der Fremde plötzlich ein langes Messer und fragte ihn: "Hast du das schon einmal gesehen?" Er erkannte sein eigenes, womit er am Morgen den Seehund getroffen hatte. Er erschrak so sehr, dass er auf sein Gesicht fiel und um Gnade bat. Er dachte nicht anders, als dass sie Rache an ihm nehmen und ihm ans Leben gehen wollten.
Statt dessen aber umringten sie ihn und rieben ihre weichen Nasen an seinem Fell, um ihm zu zeigen, wie gut sie es mit ihm meinten, und baten ihn gar sehr, er solle nur ruhig sein; es würde ihm nichts geschehen und sie würden ihn ihr ganzes Leben lang lieben, wenn er nur täte, was sie von ihm verlangten. Der Fremde brachte ihn in einen Nebenraum. Da lag ein großer brauner Seehund auf einem Lager von blassrotem Seetang mit einer klaffenden Wunde an der Seite.
"Es war mein Vater", sagte der Fremde, "den Du heute morgen verwundet hast. Ich habe Dich hierher gebracht, damit du ihm die Wunde verbindest. Denn keine andere Hand als die deinige kann ihn gesund machen."
"Ich verstehe zwar nicht viel von der Heilkunst", sagte der Robbenfänger und war erstaunt über die Nachricht dieser seltsamen Geschöpfe, denen er solches Unrecht getan hatte, "aber ich will ihn verbinden, so gut ich nur kann. Es tut mir von Herzen leid, dass meine Hand ihm die Wunde schlug."
Er ging zu dem Bett, wusch und versorgte den Kranken, so gut er nur konnte. Kaum war er damit fertig, da schien sich die Wunde schon zu schließen und zu heilen. Nur eine Narbe blieb, und der alte Seehund sprang, so munter wie je. Da verwandelte sich die Trauer in allgemeine Lust und Freude, im ganzen Robbenpalast lachten sie, schwätzten sie, küssten sich in ihrer sonderbaren Weise, scharten sich um den Alten, rieben ihre Nasen gegen seine, als wollten sie ihm zeigen, wie glücklich sie über seine schnelle Heilung wären.
Der Robbenfänger stand die ganze Zeit in einer Ecke, bedrängt von finsteren Gedanken. Er sah wohl, sie wollten ihn nicht töten - aber sollte er nun sein ganzes übriges Leben lang als Seehund hier klaftertief unter dem Meere bleiben? Da nahte sich zu seiner großen Freude wieder der Fremde und sagte: "Nun steht es dir frei, zu Weib und Kindern heimzukehren. Ich will dich zu ihnen bringen, aber nur unter einer Bedingung." - "Und welche wäre das?" fragte der Robbenfänger begierig und war ganz außer sich vor Freude bei dem Gedanken, unversehrt wieder in die Oberwelt und zu seiner Familie zurückkehren zu dürfen. "Dass du einen feierlichen Eid schwören willst, nie wieder einen Seehund zu verwunden." Das wollte er gern tun. Wenn er damit auch den Robbenfang, seinen bisherigen Lebensberuf, aufgeben musste, so wusste er doch, nur so würde er seine richtige Gestalt wiedergewinnen können. Schließlich konnte er sich ja dann später auf irgendeine andere Art sein Brot verdienen.
So legte er den geforderten Eid mit aller Feierlichkeit ab, hielt seine Flosse hoch zum Schwur, und alle die anderen Robben stellten sich neben ihn als Zeugen. Ein Seufzer der Erleichterung ging durch die Säle, als die Worte gesprochen waren: denn er war der tüchtigste Robbenfänger im Norden gewesen.
Dann sagte er der seltsamen Gesellschaft Lebewohl. Mit seinem Führer zog er wieder durch das äußere Korallentor und hoch durch das schattenhafte grüne Wasser, bis es anfing immer lichter zu werden und sie zuletzt auftauchten im Sonnenschein der Erde. Mit einem Sprung waren sie oben auf der Klippe, wo die beiden schwarzen Rosse schon auf sie warteten und ruhig das grüne Gras abknabberten.
Als sie das Wasser verließen, fiel ihre seltsame Verkleidung von ihnen ab, und sie waren gerade so wie vorher, ehe sie ins Wasser hinab getaucht waren: ein einfacher Robbenfänger und ein hochgewachsener gutgekleideter Mann im Reitanzug. Dann geschah alles wie vorher, die Pferde sausten dahin, und es dauerte nicht lange, da stand der Robbenfänger wieder wohlbehalten vor seinem Haus. Wie er dem Fremden die Hand hinhielt, um Lebewohl zu sagen, zog der einen großen Beutel Goldes heraus und reichte ihn hin: "Du hast deine Pflicht bei dem Handel erfüllt - wir müssen es ebenso machen", sagte er. "Man soll nie sagen dürfen, wir hätten eines ehrlichen Mannes Arbeit beansprucht, ohne uns erkenntlich zu zeigen."
Damit verschwand er. Als der Robbenfänger in seiner Hütte den Beutel auf dem Tisch ausleerte, war es so viel, dass er nicht bedauern brauchte, seinem Handwerk entsagt zu haben.

Der Mai macht alles neu!


Die Lebenszeit ein Märchen

der Brüder Grimm
Als Gott die Welt geschaffen hatte und allen Kreaturen ihre Lebenszeit bestimmen wollte, kam der Esel und fragte 'Herr, wie lange soll ich leben?' 'Dreißig Jahre,' antwortete Gott, 'ist dir das recht?' 'Ach Herr,' erwiderte der Esel, 'das ist eine lange Zeit. Bedenke mein mühseliges Dasein: von Morgen bis in die Nacht schwere Lasten tragen, Kornsäcke in die Mühle schleppen, damit andere das Brot essen, mit nichts als mit Schlägen und Fußtritten ermuntert und aufgefrischt zu werden! erlaß mir einen Teil der langen Zeit.' Da erbarmte sich Gott und schenkte ihm achtzehn Jahre. Der Esel ging getröstet weg, und der Hund erschien. 'Wie lange willst du leben?' sprach Gott zu ihm, 'dem Esel sind dreißig Jahre zu viel, du aber wirst damit zufrieden sein.' 'Herr,' antwortete der Hund, 'ist das dein Wille? bedenke, was ich laufen muß, das halten meine Füße so lange nicht aus; und habe ich erst die Stimme zum Bellen verloren und die Zähne zum Beißen, was bleibt mir übrig, als aus einer Ecke in die andere zu laufen und zu knurren?' Gott sah, daß er recht hatte, und erließ ihm zwölf Jahre. Darauf kam der Affe. 'Du willst wohl gerne dreißig Jahre leben?' sprach der Herr zu ihm, 'du brauchst nicht zu arbeiten wie der Esel und der Hund, und bist immer guter Dinge.' 'Ach Herr,' antwortete er, 'das sieht so aus, ist aber anders. Wenns Hirsenbrei regnet, habe ich keinen Löffel. Ich soll immer lustige Streiche machen, Gesichter schneiden, damit die Leute lachen, und wenn sie mir einen Apfel reichen und ich beiße hinein, so ist er sauer. Wie oft steckt die Traurigkeit hinter dem Spaß! Dreißig Jahre halte ich das nicht aus.' Gott war gnädig und schenkte ihm zehn Jahre.

Endlich erschien der Mensch, war freudig, gesund und frisch und bat Gott, ihm seine Zeit zu bestimmen. 'Dreißig Jahre sollst du leben,' sprach der Herr, 'ist dir das genug?' 'Welch eine kurze Zeit!' rief der Mensch, 'wenn ich mein Haus gebaut habe, und das Feuer auf meinem eigenen Herde brennt: wenn ich Bäume gepflanzt habe, die blühen und Früchte tragen, und ich meines Lebens froh zu werden gedenke, so soll ich sterben! o Herr, verlängere meine Zeit.' 'Ich will dir die achtzehn Jahre des Esels zulegen,' sagte Gott. 'Das ist nicht genug,' erwiderte der Mensch. 'Du sollst auch die zwölf Jahre des Hundes haben.' 'Immer noch zu wenig.' 'Wohlan,' sagte Gott, 'ich will dir noch die zehn Jahre des Affen geben, aber mehr erhältst du nicht.' Der Mensch ging fort, war aber nicht zufriedengestellt.

Also lebt der Mensch Siebeinzig Jahr. Die ersten dreißig sind seine menschlichen Jahre, die gehen schnell dahin; da ist er gesund, heiter, arbeitet mit Lust und freut sich seines Daseins. Hierauf folgen die achtzehn Jahre des Esels, da wird ihm eine Last nach der andern aufgelegt: er muß das Korn tragen, das andere nährt, und SchIäge und Tritte sind der Lohn seiner treuen Dienste. Dann kommen die zwölf Jahre des Hundes, da liegt er in den Ecken, knurrt und hat keine Zähne mehr zum Beißen. Und wenn diese Zeit vorüber ist, so machen die zehn Jahre des Affen den Beschluß. Da ist der Mensch schwachköpfig und närrisch, treibt alberne Dinge und wird ein Spott der Kinder.